
Jüdische Gemeinde Weiden
Jahresbericht 2002
Die religiöse Arbeit
Auf drei Dingen steht die Welt: Auf der Tora, auf dem
Gottesdienst und auf Gemilut Chasadim (=Sozialarbeit). So steht es im Pirke
Awot.
Bei der Sozialarbeit haben wir in den letzten Jahren unsere
Stärken bewiesen. Das andere war schon immer ein schwieriges Unterfangen hier in
Deutschland, aber auch diesen Drahtseilakt konnten wir bisher ganz gut meistern.
Nur die Ruhe und Kontinuität fehlten uns in den letzten Jahren.
Zum heutigen Zeitpunkt werden wir überflutet mit Menschen, die
kein, oder nur sehr geringes jüdisches Religionsverständnis haben. Sie haben
gelernt, sich "ex negationem" zu definieren. Ihre Lebensgeschichte hat sie meist
gelehrt, dass Jude-Sein nicht unbedingt erstrebenswert ist. Und genauso
vielfältig wie die Republiken der ehemaligen UDSSR waren, so sind es auch die
Mentalitäten der Leute, deren Heimat dieses ganze weite Gebiet abdeckt.
Somit muss im neuen Land auch wieder die Religion erstmals ins
Bewusstsein rücken und dann auch gelernt werden. Dies verlangt eine konsequente
und kompetente religiöse Betreuung, was aber hier zu Lande fast unmöglich ist.
Selbst große Gemeinden haben immer wieder Schwierigkeiten ihre offenen Rabbiner-
und Religionslehrerstellen zu besetzen. Auch wir sind seit Beginn der
Zuwanderung immer wieder auf der Suche nach geeigneten Leuten, die dies leisten
können.
Nach einem kurzen Intermezzo mit Rabbiner Leipziger aus
Brasilien, den es leider zu einer wesentlich ruhigeren Gemeinde in die Schweiz
weiter gezogen hat, haben wir unsere weltweiten Kontakte immer wieder aktiviert
und sind vor einiger Zeit am Schechter Institute in Jerusalem fündig geworden.
Seit einiger Zeit arbeiten wir auch mit dem Masorti-Movement
in Israel zusammen und konnten dort die Dringlichkeit unseres Anliegens
durchsetzen. Von vier Kandidaten aus aller Welt, die im Dezember ihre offizielle
Ordination als Rabbiner erhielten, haben wir Frau Gesa Ederberg als Rabbinerin
und Religionslehrerin gewinnen können.
Sie betreut nun unsere ca. 40 Schüler/innen im
Religionsunterricht. Wir richten uns dabei nach eigenen, vom bayerischen
Kultusministerium genehmigten Lehrplänen. Unterricht ist in diesen inhomogenen
Gruppen nicht einfach. Die Kinder, unterschiedlich nach Deutschkenntnissen, nach
Schulbildung und nach Alter – dies alles optimal unter einen Hut zu bringen
stellt große Ansprüche an das pädagogische Geschick des Lehrers. Unsere
Rabbinerin kann sogar auf russische Sprachkenntnisse zurückgreifen, was ihr
nicht nur hier Vorteile verschafft.
Momentan denken wir auch neue Wege an in der pädagogischen
Vermittlung des Unterrichtsstoffes, um all den unterschiedlichen Schülergruppen
gerecht zu werden.
Zudem suchen wir jetzt auch Erwachsenenbildung neu zu beleben.
Zweimal im Monat nutzt Frau Ederberg die Zeiten des Seniorenclubs und gibt den
Interessierten – übrigens nicht nur Senioren – Einblick in Theorie und Praxis
des Gottesdienstes.
Diesen leitet sie auch einmal im Monat und nutzt ihn, um den
Anwesenden immer wieder anschaulich Neues zu erklären. Die Besucherzahl zeigt,
dass Interesse daran besteht. Einmal im Monat leiten wir unseren
Freitagabend-Gottesdienst selbst, auch dies eine Praxis, die sich jetzt schon
über Jahre hinweg bewährt hat.
Im letzten Jahr konnten wir zwei Bat-Mizwen feiern und unsere
gesamten Feiertage begehen. Gerne greifen wir mitunter auch auf "unseren"
Studenten von der Heidelberger Hochschule zurück, ein junger Mann, der den
Gemeinde-Sederabend an Pessach so geschickt leitet. Dieses Fest kann nunmehr
schon das dritte Jahr nicht mehr in den Gemeinderäumen gefeiert werden, da sie
einfach für die vielen Menschen zu klein sind. Wir sind deshalb froh, hier im
evangelischen Vereinshaus unterzukommen.
Unsere Aktivitäten, die wir nach außen teilweise reduziert
haben, haben wir im innergemeindlichen Bereich jedoch ausgebaut und der Erfolg
gibt uns recht.
So hatten wir im letzten Jahr vor Pessach bundesweit für
jüdische Gemeinden ein Seminarwochenende unter Leitung von Frau Ederberg dazu
ausgeschrieben. In diesem Jahr planen wir das Ganze zum Thema Shawuot zu machen.
Auch hier haben sich unsere Gemeindeküche und deren freiwillige Helfer wieder
hervorragend bei der Bewirtung der Gäste bewährt.
Zudem ist die Weidener Gemeinde Gründungsmitglied und die
erste Vorsitzende auch stellvertretende Vorsitzende des in Berlin gegründeten
Vereins der Masorti Bewegung. "Masorti e.V. - Verein zur Förderung der jüdischen
Bildung und des jüdischen Lebens" , damit hat auch die weltweite konservative
Bewegung des Judentums in Deutschland wieder eine Heimat gefunden. Die
Aktivitäten und das Programm des Vereins können eingesehen werden unter
www.masorti.de.
All die Jahre haben wir in dieser Kräftezehrenden und manchmal
frustrierenden Arbeit der religiösen Konsolidierung und Neuordnung der Gemeinde
auch immer erlebt, Freunde zu haben auf der ganzen Welt, die uns immer wieder
unterstützten. So ist uns ein lieber Freund und Wegbegleiter Rabbiner Arnold
Turetsky mit seiner Frau Noemie aus New York geworden. Er hat uns immer wieder
an Feiertagen, wenn er in Prag war ausgeholfen und unser Anliegen nach der
Rabbinersuche immer wieder unterstützt.
Wir glauben zwar nicht, dass wir nun endgültig am Ziel sind –
wir werden noch lange unterwegs sein und auch oftmals weiter improvisieren
müssen – doch eine gewisse innere Konsolidierung nach all den vergangenen
Aufbaujahren haben wir geschafft. Das religiöse Leben scheint auch wieder in
geregelte Bahnen zu kommen und kann hoffentlich auch weiterhin den veränderten
Ansprüchen der "neuen-alten" Gemeinde genügen.
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